Erinnerungen...

Erfahrungsaustausch mal ausführlich.
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kaeltezone
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Re: Erinnerungen...

Beitrag von kaeltezone » Do 9. Jun 2011, 21:29

Philippe hat geschrieben:An dieser Wochenende versuche ich wieder, etwas zu erzählen, wahrscheinlich um Vestfirdir, die nicht so bekannt sind.
Da freue ich mich schon drauf. Finde es toll, dass du dir die Arbeit machst und es sogar noch für uns übersetzt.

Salutations Stefan
Philippe
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Wie es alles anfing...

Beitrag von Philippe » Sa 11. Jun 2011, 11:39

Also, was tue ich eigentlich hier ?

Das is genau die Frage, die sich vor mir vorstellt, als ich trübselig und allein ein Stücken Käse, vom Rucksack ausgefischt, kaue, in einer Art leeren, kalten, feuchten, schmutzigen Holzhütte mit zerbrochenen Scheiben, 200 Meter von der nicht asfaltierten Strasse zwischen Búðir und Olafsvík entfernt, mitten im Snæfellsnes, an diesem 30. Mai 1974 morgens.

Man hatte mich doch genug gewarnt : das Klima in Island ist schrecklich, es wird viel mehr Regen und Wind, vielleicht auch Schnee geben, als Sonne und Wärme. Das wusste ich doch. Und was habe ich mitgenommen, um mich vom isländischen Regen zu beschützen ? Einen kleinen K-Way, der nicht 5 Minuten, sogar unter einem normalen, französischem Regen leistet. Ein richtiger Idiot bin ich ja.

Kauend schaue ich mich um : Steine, Steine und Regen. Kein Fahrzeug in Sicht (ich versuche, trampend nach Olafsvík anzukommen). Wie wäre es möglich, nicht an diesem Satz aus « Pêcheur d'Islande », von Pierre Loti, zu denken : « Des pierres, des pierres, rien que des pierres. Un triste pays, va, Gaud, je t'assure » (Steine, Steine und nichts anders als Steine. Ein trauriges Land, ja Gaud, das kann ich dir versichern).

Hier muss es aber ein kurzer Flashback geben.

In 1973 hatte ich nach Afghanistan und zurück gereist, alles auf Landweg : das war meine erste grosse Alleinreise, und eine richtige Erfahrung. Billig hatte es gewesen (ca. 4,50 US$ pro Tag, Durchschnitt). Als ich zurückkam, fehlte mir ein neues Ziel. Die Karte Europas hing auf meiner Wand zu Hause, und oben links konnte man diesen gelben, mitten im Blauen, fast leeren Fleck, beobachten : « Island ». Die nächste Reise würde also nach Island.

Für Island würden 4,50$ pro Tag nicht reichen, das hatte ich rasch verstanden. Also hatte ich 6 Monate in Mulhouse Bahnhof-Post gearbeitet : die Züge und Lastwagen mit Postsäcken ein- un auszuladen, ein ziemlich körperlicher Job also. Überstunden konnte man tun, also hatte ich Überstunden getan, manchmal standen die Wochen aus 60 Stunden... Ich hatte auch um Island gelesen, und etwas Ausrüstung gekauft : Zelt, Schlafsack, gute Lederschuhe, Karten, Bussole (GPS gab es dann noch nicht !) usw... und diesen lächerlichen K-Way. Dann hatte ich schon Hveravallir und die « heisse Quellen » auf der Karte erkundet : dorthin würde ich natürlich zu Fuss ankommen. Sechs Wochen hatte ich gedacht, in Island allgemein zu wandern.

Um ein wenig zu tränieren, war ich an einem schönen Morgen mit aller meiner Ausrüstung auf den Wegen Elsass für 2 Tage aufgebrochen – ca 50 Km zu Fuss. Doch schien mir der Rucksack beim Weggehen nicht anständig schwer (ich wusste, dass ich in Island auch noch mein Lebensmittel für mehrere Tage mitnehmen musste) – also hatte ich noch einen dicken Altgriechiesch-französiches Wörterbuch hinzugefügt. So hat das Wörterbuch auch 2 Tage durch Süd-Elsass spaziert, was hat es davon gedacht, das habe ich nie gewusst (wenige Leute in Süd-Elsass reden altgriechiesch, genau wie in Island). Übrigens war es doch nicht so klug, die Dichte eines griechischen Wörterbuchs ist tatsächlich nicht sehr hoch, und es wäre viel einfacher gewesen, einige Steine in den Sack einzuhäufen).

Am 17. Mai war es also los. Von Mulhouse nach Calais hatte ich getrampt. Ein Kerl (Handelsvertreter, bequemer Wagen) hatte mir gefragt, wohin die Absicht war :
- Nach Island, durch England und Schottland.
- Island ??? In Island habe ich doch eine Bekannte ! Sie heisst Dominique, und arbeitet als Sekräterin in der französischem Botschaft in Reykjavik !
Er gibt mir seine Karte und bittet mir, Dominique von ihm zu grüssen !
- Sie kennt Island ziemlich gut, sie kannt dir auch Ratschläge geben.
Vielen Dank ! Dass hatte ich mir gar nich vorgestellt. Aber solchem einem Zufall ist es kaum zu glauben. Natürlich werde ich Dominique angrüssen. Sie ist mir schon sehr sympathisch im Voraus.

Ferry-Boat von Calais bis Dover, dann auf dem Zug : ich hatte einen 7-Tage Wochenpass in Frankreich vorgekauft, so kann ich irgendohin ins Königreich Grossbritannien fahren, ohne etwas zu bezahlen. Direkt nach Schottland : Edinburgh, die Insel Skye, usw.

Am 27. Mai fliege ich endlich von Glasgow-Abbotsinch nach Reykjavik. Ich bin dann 18 ½ Jahre alt, und es ist das erste mal, dass ich in einen Flugzeug eintrete. Bisher hatte ich immer gedacht : wenn es irgendwohin ein Landweg gibt, warum sollte ich doch fliegen ? Aber nach Island gibt es keiner Landweg, und mit dem Schiff war es etwas kompliziert. Also, danke dem Boeing-727 von Icelandair, brauche ich nur 2 Stunden (und 400 FF – mit 25% Jugendermässigung) nach Keflavik, und dazu gibt es noch ein Coca (« no charge for soft drinks, no charge ! » und das Lächeln der isländischen Stewardess. Jetzt weiss ich schon, wofür ich mich 6 Monate lang wie ein Hund erschöpft habe.

Isländische und amerikanische Fahnen, im Licht und Wind des Nordens wehend, grüssen mir auf dem Rollbahn Keflaviks. Das ist eine neue Welt ! Und auch etwas kühl. Manche Leute sind in Transit nach New York, die anderen, wie ich, sind angekommen.

Im halbleerem Bus nach Reykjavik bemerke ich einen Kerl, der mit Rucksack und Pickeln reist : der weisst ja genau, was er in Island tun wird. Aber ich mache Bekannschaft zu einem anderen, ein Deutscher, der im Gegenteil scheint, nichts besonderes planiert haben, reist ohne Zelt, ohne Jugendherbergekarte, und wahrscheinlich mit wenigem Geld : heute abends wird er irgendwo « draussen » schlafen !

Ich ziehe also zu der Jugendherberge. Das Mädel am Kontor, ein hübsches Käfer, trägt nur Hosen, Bluse (nichts unten) und Leinenschuhe. Hinter ihr hängt eine riesige Karte Islands an der Wand. Schotter, Deutscher, Schweizer, Japaner, Amerikaner... ich bin nicht der einige Ausländer in Island an einem 27. Mai ! Eine fröhliche Anarchie-Atmosfäre herrscht herum. Dann klingt etwas bekannter an meinen Ohren : Franzosen gibt es auch. Einer ist neu in Island, will ein Film in einer isländischen Familie drehen. Der andere, rothaarig, mit Bart und Fischerdraht als Schnürsenkel, hat letzten Winter auf einem kleinem Fischerboot gearbeitet, ist etwas enttäuscht : er hatte auf 10.000 FF Lohn erwartet, hat ja nur 2.000 gekriegt, die Saison war schlecht. Was wird nach Island geben ? « Wahrscheinlich Patagonien » (ich glaube nicht, dass er es im Scherz sagt). Und was sind meine Pläne ? Island zu Fuss durchqueren, sage ich schüchtern. Sie schütteln den Kopf : unmöglich, es gibt keine Strassen, keine Dörfer, sondern Schnee- und Sandstürme, die Wildbäche sind in Anschwillen... Sie zeigen mir schon keine Interesse mehr.

Im Zimmer gibt es ein Amerikaner, es ist schon 10 Uhr abends und noch hell, ich frage ihm :
- At what time does the sun set down by now ?
Und er antwortet mit Grabesstimme :
- It doesn't.
(was doch etwas übertrieben ist).

Am nächstem Tag bin im Tourist Information, und stelle wieder meine Pläne vor : Kjölur, Hveravallir. Ist es möglich ? Selbstverständlich ist das möglich, wenn man genug Lebensmittel mitbringt. Nur nicht jetzt. Es ist zu früh, die Bächer sind hoch. Letztes Jahr, « a young gentleman from India » hat es versucht, nur hat er sich auf dem Weg verloren, und recht auf dem Langjökull gelandet. Also nicht jetzt. Vielleicht etwas später. Das erinnert mir komisch an asiatischen Beamten, die jeden Quatsch erzählen werden, um den Kunden zu befriedigen, ohne irgendeine Verwantwortung zu übernehmen.

Also Richtung Französische Botschaft, Dominique, hier bin ich ! Tatsächlich ist sie sympathisch, nimmt auf ihrer Zeit, um mir auf der Karte zu zeigen, was interessantes gibt. Als sie hört, dass ich ihren Bekannten durch Auto-stop getroffen habe, leitet sie aus, dass ich die ganze Zeit in dieser Art reise, und ermutigt mich : du wirdst selbst sehen, es ist leicht, in Island zu trampen. Das hatte ich früher gar nicht gedacht, ich hatte mir vorgestellet, mit Bus und dann zu Fuss... Aber warum nicht ?

Was ist das nächste interessantes Ort ? Vielleicht Snæfellsness, Dominique hat gesagt, es wäre wunderschön (und darüber hat ja Jules Verne erzählt !) Der Plan ist so geworden : erst in den Westfjorden, bis Isafjördur, und im Norden zu trampen und wandern, vielleicht werden mittlerweile die Bächer etwas freundlicher (???), dann dem Kjölur wieder anzugehen.

8 Km zu Fuss, um aus Reykjavik zu kommen (schon wieder etwas Tränierung), und dann Daumen hoch ! Am gleichen Abend erreiche ich ruhig Borgarnes, also 150 Km, kleine Etappen, verschiedene Fahrer : ein anständiger Vater mit seinen zwei Tochtern, trinkt « Maltextrakt » weil er mit der anderen Hand steuert ; zwei Burschen in einem amerikanischen Wagen, trinken ein Gemisch Coca/Whisky ; ein Bauer, der um 1950 in Paris gewesen ist ; ein Lastwagenfahrer is seinem nagelneuem Fahrzeug, spricht kein Englisch, aber entlässt mich mit einem grossem Lächeln vor dem Borgarnes Hotell. Danke schön, ich gehe weiter, suche mich ein Ort, um die Zelt aufzubauen. Schöne Gebirge mit Schnee im Hintergrund, ein freundlicher isländischer rotbrauner Poney als Geselle, viele seltsame Vögel : erste Nacht im Freien in Island.

Am nächsten Morgen fallen schon die ersten Regentropfen, und es wird nur schlimmer und schlimmer. Ich trampe bis Búðir : von dem wunderschönem Snæfellsnesjökull ist nichts zu sehen, ist im Nebel eingehüllt. Sehr wenige Fahrzeuge, und jetzt ein böses Regen, ich bin schon nass, wie ein Lachs im Fjord : lieber gehen, als unter Regen und mitten in Bergen und Steinwüste zu frieren. Verdammter K-Way ! Bis Olafsvík ist es doch möglich, zu Fuss anzukommen, auf diesem schlechtem Weg durch der Halbinsel... Aber da weiter steht eine Hütte... ein bisschen Stutz...

Was tue ich hier ?

Weil ich meine Käse kaue, kann ich 4 Fahrzeuge, Richtung Olafsvík, beobachten ! Aber die Strasse ist 200 Meter entfernt, meine Sachen sind ausgepackt... nichts zu tun. Wieder einpacken, und im Regen zur Strasse zurück...

1 Km vor der Küstekreuzung, Fahrzeug in Sicht ! Daumen hoch, der Fahrer hält, nach 12 Km zu Fuss im Regen werde ich mitgenommen.

Es sieht aus, als Island mit mir etwas Spass machen wollte. Haha, der kleine Franzose, will allein ins Hochland, erst werden wir ihm ein bisschen zeigen, wie Island wirklich aussehen kann.

Macht nichts ! Ich zittere vor Kälte, doch trete ich nicht zurück. :twisted:

(Das nächste : um Isafjördur)
Philippe
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It's a long way to Ísafjörður...

Beitrag von Philippe » So 12. Jun 2011, 13:17

Olafsvík... Von Camping will ich gar nichts hören. Direkt zum Hotell, wieviel kostet die Übernachtung ? Tausend Kronen. Dann guckt mir der Manager etwas näher an, lächelt : 800 Kronen werden genug.

Wenige Kunden, meistens isländische Fischermänner : für ihnen scheint eine Tausend-Krone Rechnung kein besonderes Problem zu sein. Für mich, also sagen wir... mal von Zeit zu Zeit... Der Kaffee im Saal, obwohl sehr mittelmässig, schmeckt herrlich.

Es ist jetzt klar, dass ich den Snæfellsnesjökull nicht einmal kurz sehen werde, so was nun ? Die Karte sagt, es gäbe ein Flugplatz in Hellisandur, 9 km weiter. Vielleicht kann ich dort einen Flugzeug nach Ísafjörður finden ? (ich bin noch neu und naiv). Wieder mal zu Fuss, im Regen, doch nimmt mich ein Lieferwagen (Seufzer). Hellisandur : einige farbige Häuschen, eine riesige Radioantenne, Schlamm und Schafenweiden. Hier endet die Welt. Der Regen verstärkt sich, in Eile baue ich das Zelt auf einer Weide und stürze hinein, die Tropfen knattern auf dem Dach.

Nach einer Stunde gehe ich nach Erkundigung hinaus : im kleinen Postamt spricht die Beamte nicht englisch ! Aber sie lässt mich nicht fallen, ruft an, mehrmal, wohin ? keine Ahnung, dann gibt sie mir den Hörer, eine Mannesstimme, auf english, was wünschen Sie ?
- Gibt es bald irgendeines Schiff oder Flugzeug aus Hellisandur nach Vatneyri, oder Ísafjörður ?
- No Sir, we're sorry. There are planes to Reykjavik...
(In Island kommt alles aus Reykjavik und kehrt nach Reykjavik zurück. Jetzt werde ich es wissen).

Aber die Telefonistin ruft wieder an : es gibt ein « Milkbus » heute nachmittags nach Búðardalur, wäre ich interessiert ? Was kann wohl ein Milkbus sein, weiss ich nicht, aber ich schaue nach dem Regen draussen und bin gleich einverstanden. Das Zelt wieder einfalten, dann zum Kooperative-Lager, wo ich mindestens im Trocken warten kann. Der Milkbus ist einfach ein Milchlieferwagen, er sammelt und liefert die Milchkannen auf dem ganzen Weg bis Búðardalur. Nichts zu bezahlen, doch wohl kann ich mithelfen : aber gerne ! Mal halten wir in der Hütte eines Eremitfischermanns in der Nähe der Strasse, um Kaffee zu trinken : es ist klein, aber sauber und gut eingerichtet, mit Heiligenbildchen an der Wand.

Grundarfjörður, Skjöldur, Stykkishólmur... Um acht Uhr abends wird es Búðardalur, und der Regen hört auf ! Ich danke meinem Fahrer und gehe etwas weiter, der Strasse entlang, um zu zelten : mehrere Wagen halten für mich, ohne irgendeiner Handbewegung von mir, wohin möchte ich ? Leider möchte ich nichts mehr für heute, nur ruhen, danke ! Gegenüber dem Fjord übernachte ich (es gibt ja überhaupt kein Nachtdunkel), von einigen misstrauigen Schafen bewacht, weil das Zeltdach über meinem Kopf langsam ertrocknet... Das war's also für den Snæfellsness !

Am nächsten Tag, wieder trampen (und wieder ein wenig Sonne !) Ein amerikanischer Wagen mit 4 Leute drin, dann ein Daf 55 : der Fahrer, ein kleiner Mann, schwarz angezogen, mit Hut an, summt die ganze Zeit Opernarien mit seiner Frau, weil mir Halspastillen bietend. Er spricht gut englisch :
- Where are you going ?
- Ísafjörður.
- What do you intend to do there ?
- Well, to see the town, to walk in the neighbourhood...
- Why are you hitch-hiking, if you like walking ?
- Well, sometimes I hitch-hike, and sometimes I walk.
Er sieht nicht überzeugt aus. In Gufudalur entlässt er mich vor der Kirche (Gufudalur ist etwas rührendes : drei Häuschen, ein Schafstall, und dann die kleine Kirche), und plötzlich verstehe ich : das war der Pfarrer von Gufudalur, und es waren nicht Opernarien, sondern Psalmen, die er die ganze Zeit summte !

Dann ein Wagen schon fast ausgefüllt mit aller möglichen Dingen, der Kamerad des Fahrers ebenso voll (besoffen), mit Schwierigkeiten setze ich mich vorne, zwischen beiden. Sie haben auf einer Baustelle im Húnaflói gearbeitet, und mit Überstunden haben sie jeder 8.000 FRF am Monat verdient ! (in meinem Bahnhofpost in Frankreich war der Standardlohn um 1.100 FRF...) Sie wissen schon nicht mehr, was aus ihrem Geld zu tun, haben alles Mögliches gekauft, Hi-Fi Gerät usw, und natürlich auch Alkohol, z.B. etwas ganz köstliches, aus den Vereinigten Staaten :
- What is it ?
- Aaaaaahhh... (extatische Augen rollend) : it's a gooooood thing !
(Es war « Southern Comfort », und niemals im Leben würde ich davon mehr trinken, ohne diese Fahrt zu erinnern).

Als wir an einer Tankstelle bei der Bucht halten, zeigen sie mir einen Seehund, im Wasser herumtollend. Dann nimmt einer eine Flasche Coca-Cola, schüttelt sie kräftig, spritzt das Getränk auf die Windschutzscheibe, beschliesst, das sie jetzt schon bedeutsam säuber ist, und es geht weiter. Sie fahren nach Hause, im Patreksfjörður, und booten mich aus bei der Ísafjörður-Abzweigung – aber nicht ohne mich zuerst zum Essen eingeladen zu haben.

Da baue ich wieder das Zelt, und gehe für einen Abendspaziergang : ich steige einige Bergen hoch, um das Panorama auf den Vatnsfjörður und seine kleinen Inseln zu geniessen. Der Himmel ist noch bedeckt, doch ist es hell. Wenn ich zum Zelt zurückkomme, sind meine Jeans klatschnass, nicht vom Regen, sondern von den kriechenden Büschen, die überall in den Mulden wachsen.

Um Mitternacht kann ich ruhig und ohne Lampe in meinem Zelt lesen.

(Geehrter Leser, bitte etwas Geduld, Ísafjörður nähert sich !) ;)
Philippe
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Wenn es keinen Weg gibt, so schaffen wir einen...

Beitrag von Philippe » Mo 13. Jun 2011, 11:25

Heute is Sonntag, der 2. Juni, und obwohl ich mich spät auf dem Weg gemacht habe (ca. 12 Uhr), ist der Verkehr null. Wie gewöhnlich, lieber als stehenbleiben und warten, gehe ich : nach 1 ½ Stunden Steigung, komme ich schwitzend und schnaufend zur Bíldudalur-Abzweigung, 8 Km weiter. Ich habe noch keine Seele gesehen. Dann beginnt es, etwas lebhafter zu werden : ein Wagen nimmt mich auf 20 Km, und dann ein anderer, aus einer 3-Fahrzeugekolonne, bis zu Ísafjörður ! Die Leute sind nett, reden doch nichts anders als isländisch.

Hier herum stehen grossartige und erschreckende Gebirge, sehr verschieden von denen, die ich seit Reykjavik gesehen habe : riesige gerillte Eiszeittafel, mit Schnee bedeckt, äusserste ausgeschneidete Küste, nur Stein und Gras, fast kein Mensch, es wird recht unmenschlich. Neben Þingeyri, um einen 2-3 Km breiten Fjord herumzufahren, macht die Strasse einen 32 Km-Umweg. Endlich erscheint Ísafjörður ! Eine flache Erdezunge, auf dem Fjord gelegt und von Tafelgebirgen umgegeben.

Fast keine Seele herum, für heute beschliesse ich, im Zelt zu übernachten. Am nächsten Tag finde ich einen nicht zu teuren Hotell (600 Kr.), von der Heilsarmee geführt : der Bibel liegt auf dem Nachttisch. Heisse Dusche gibt es auch – Gott sei dank. Ich lese den deutschsprachigen Reiseführer, den ich vorgestern an einer Hotellrezeption gekauft habe, und beobachte lange und nachdenklich seine Reklamen : 18-Löcher Golfplatzen, Hotelle « mit Atmosfäre », isländische Wollepullover, und natürlich auch :
« Vor dem Essen, nach dem Essen,
Egils Pilsner nicht vergessen ! »
(was kann ein Deutscher vom Egils Pilsner denken, darüber bin ich nicht ganz sicher).

Ísafjörður lässt sich in weniger Zeit besichtigen. Sagen wir es klar : dort gibt's nichts zu tun (was tue ich hier ?) Doch bin ich dort gewesen. Wie kommt man weiter ? Ich möchte jetzt nach Akureyri, aber nicht auf dem gleichem Weg. Ich erkundige mich : Flugzeug ? Nur nach Reykjavik. Bus ? Gibt's nicht. Schiff ? Nach Siglufjörður, aber nicht vor nächstem Sonntag (« they expect it ! »). Also Lastwagen ? Davon gibt es einige, aber nur auf der Strasse, auf der ich angekommen bin (140 Km zurück bis Vatnafjördur, wo ich gezeltet habe). Doch gehe ich für alle Fälle zum Hafen, und frage die Leute, die sich auf den Schiffen beschäftigen : das Litlafell, das schweres Selfoss, und zu Ende das « IS-102 » (trägt keine Name, nur eine Nummer). Alle ziehen nach Reykjavik.

So kaufe ich mir Essen für 3-4 Tage (so schwer sind schon 3-4 Tage Lebensmittel ? wie werde ich denn für 10 Tage mitnehmen ? Die Antwort is : Trockenes mitnehmen...) und los ! Richtung Süd-Osten, mehr oder weniger nach Hólmavík (heutzutage scheint es, eine anständige Strasse dorthin zu geben, aber in 1974 war es nicht der Fall). Bis Súðavík (ein Fischerweiler) finde ich einen Wagen. Etwas weiter kommt mir ein Traktor entgegen, die Fahrerin bietet sich, mich mitzunehmen, es wäre gerne, nur ist es nicht meine Richtung ! Also 10 Km zu Fuss bis am Hattardalurweiler, das sind 4-5 Bauernhöfe am Anfang des Fjords und auch eines Tals. Wenn ich die Karte traue, würde mir der Talaufgang etwa 15 Km sparen, wenn mit dem Fjordentlangweg vergleichend. Also durch einige Tal-beschliessende Stacheldrähte, geht es hinauf ! (diese Stacheldrähte haben mir die ganze Zeit in Island irritiert – ein freies Land sollte das sein ! – doch sind sie da, nicht besonders als private Demarkationslinie, sondern um dass die Tiere nicht ausfliehen...)

Es ist doch nicht so leicht, wie es erst aussah. Kein Weg, die verdammte kriechende Vegetation, die Wildbächer, die man durchqueren muss, der Schnee am Boden, die schräge Steigungen... Doch je höher komme ich auf, desto grossartiger ist die Aussicht auf den Fjord (die Sonne ist zurück !), und ich bedaure meine Initiative nicht. Ganz oben am Tal gibt es kleine Wasserstrahlen, unglaubig klar, die durch Moos und Schnee rennen. Durch einige hochgehobene Schneeplatten muss ich noch, und das ist etwas beunruhigend, man hört das gluckerndes Wasser unten : nur Vorsicht... Die Landschaft erinnert mir sogar an Afghanistan (die Band-i-Amir Gegend), aber hier gibt es keine Dromedaren, nicht einmal Schafe.

Auf der anderen Seite geht es schon etwas leichter. Die Sonne, hinter mir, ist jetzt vom Berg versteckt, aber es ist noch ganz hell. Einmal segelt eine kleine Wolke heran, das östliches Tal erfüllend, dann löst sie sich auf und erlaubt wieder die Sicht. Schnee, Stein und Bächer gibt es ja immer noch, und dann, tiefer, wieder mal der schreckliche Miniatur-Urwald, die einen durchnässt und wie Stacheldraht anhängt : nur der Kopf kommt aus den Zweigen hervor. Wenn ich endlich aus dem herausziehe, fühle ich mich wie betäubt. Grund ! Einige Hunderte Meter weiter liegt der nächste Fjord, der Hestfjörður (der Fjord des Pferdes). Weit oben leuchtet still ein rosenfarbiger Gipfel, est ist 11 Uhr abends, fünf Stunden habe ich gebraucht, um durch den Massiv « abzukürzen » ! Doch fühle ich mich froh und in Frieden, weil ich ganz allein das Zelt neben einem klaren Bach aufschlage. Morgen wird ein anderer Tag. :)
Zuletzt geändert von Philippe am Di 14. Jun 2011, 21:50, insgesamt 1-mal geändert.
Philippe
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Alle Wege führen nach Akureyri...

Beitrag von Philippe » Mo 13. Jun 2011, 17:38

Meine müde Beine schlagen mir vor, dieses Mal vielleicht doch dem Fjord entlang zu gehen. Also gut, jetzt nordwärts. Schönes Wetter, aber schlechter Weg, viel Schlamm und Wasser dadurch. Um 4 Uhr nachmittags bin ich in Hvitanes, das ist der Kapp auf dem Ísafjarðardjúp, und da beginnt der nächste Fjord (der Skötufjörður) : schon wieder südwärts... Das sieht aus, wie ein Sisypheaufgabe. Ein wenig weiter gibt es eine Stromerzeugendanlage : vielleicht für die Leute, die die künftige Strasse bauen werden... Jetzt is der Weg doch wieder fahrbar, mit Kieseln bedeckt, und auf der Seite gibt es ein Wasserablaufgraben. Fussgehen ist leichter, doch auch langweiliger. Bis zum Ende des Fjords werde ich einem einzigen Fahrzeug begegnen. Das Ort ist weniger freundlich als gestern, Sumpf, auch einige Zäune, doch finde ich einen Platz. Heute bin ich 25 Km gegangen, obwohl ich in der Luftlinie nur 7 oder 8 Km von meinem letzten Übernachtungplatz enfernt bin. Beine und Rücken fühlt man schon.

Am Morgen ist die Stimmung trübe. Wenn man so den ganzen Tag allein geht, mitten im Nichts, dann die Nacht noch allein auf dem Boden schläft, da hat man so viel Zeit zu denken, erinnern, träumen, bedauren vielleicht... Alte Lieder, alte Buchpassagen, alte Gespräche kommen und gehen durch den Kopf... Manchmal vergisst man sogar, dass man in Island wandert. Was wird heute ? Schon wieder, entweder dem Fjord entlang, oder « schuss » durch den Bergmassiv. Doch wäre dieses Mal der Umweg ungefähr... 45 Km ! Also lieber schuss und Abenteuer.

Die Karte zeigt einen Pfad : den ganzen Aufstieg lang werde ich ihn suchen, nur oben beginne ich, Cairns ab und zu zu sehen. Pfad gibt es doch keinen, wie konnte es ein Pfad im öden Gestein geben ? Gut, das ich nicht in Nebel wandere... Es ist etwas leichter als letztes Mal, weniger steil, weniger Vegetation, das Plateau sieht aus, wie ein gewölbter Schild. Da oben, nichts anders als Stein und Schnee, auf jeden Cairn füge ich meinen Stein hinzu... Sehr weit oben, weiter als Wolken, sieht man einen winzigen Flugzeug – wohin ? Keine Seele herum, auch keine Sonne, eine Mineralstille, nur etwas Wind kann man hören : vielleicht ist Tibet etwas ähnlich ? Auch ist das Gestein manchmal ganz verwittert, die Füsse dringen bis an die Waden hinein.

Um 5 Uhr beginne ich, einem Wildbach hinab zu folgen, manchmal fliesst es unter einer 2-3 Meter breiten Schneedecke. Bevor er ins Tal kommt, bildet es durch rotes Gestein einen senkrechten, heulenden, atemberaubenden Wasserfall. Um die zurückgekehrte Vegetation zu meiden, muss ich ganz nah trappeln, bitte vorsichtig ! Da liegt schon der Fjord, mein Bach fliesst durch hunderte kleine Strömen hinzu, klares, kaltes, wildes Wasser. Ich schlage das Zelt in der Nähe des Heydalurweilers auf, da gibt's eine neue Brücke durch das Ende des Mjoifjörðurs. Viele verschiedene Vögel habe ich heute gesehen, die ich doch nicht kennte. Beine, Rücken und Stimmung stehen etwas besser als heute morgens. Meine Lederschuhe sind ständig nass, und durch die Nacht trocknen sie auch nicht.

Es ist noch nicht fertig ! Wieder mal den (etwas leichteren) Sack auf den Rücken, und schon steige ich wieder auf, um den Hestkleifmassiv durchzuqueren. Diesmal gibt es doch einen fahrbaren Weg, nach einer Halbstunde kommen zwei Wagen näher, der erste, ein gelber Toyota, hält... Der Kerl fährt nach Reykjavik, und kommt von Ísafjörður. Ísafjörður ??? wie ist er doch durchgekommen ? Ganz einfach, er hat das Fährboot, das der Küste entlang bis Arngedareyri fährt, genommen, und ist inzwischen ausgekommen. « Fagranes » heisst das Boot. Das war gut ! Ich bin doch am Kontor des Fagranes gewesen, der Beamte sprach kein Wort Englisches, hat doch alles mögliches getan, um mich zu überzeugen, die Idee aufzugeben, die ganze Zeit hat er mir hartnäckig Daten auf dem Wandkalendar gezeigt, daraus habe ich doch ausgeschlossen, dass das Fagranes seine Saisontätigkeit noch nicht angefangen hatte... Der hat also nichts getan, um einen neuen Kunden zu kriegen ! Sowieso bin ich doch genauso schnell und auch billiger angekommen...

Mein Pilot kann an meiner Geschichte einfach nich glauben : die Idee, 3 Tage allein zu Fuss durch Berg und Fjord zu gehen, weil das Boot nicht in Zeit fahren wird, ist ihm etwas ganz und gar fremdes, kommt gar nicht in Frage. Doch ist er sehr freundlich, erzählt mir vieles. Arngedareyri, Kollabuðir, dann machen wir Pause im Restaurant in Bjarkarlundur : da treffe ich ja meinen Pfarrer aus Gufudalur ! Ich gehe, ihm die Hand zu schütteln, obwohl er immer so skeptisch scheint :
- So, have you been walking ?
- Yes, quite a bit.
- Have you seen many things ?
- Well, I think I've seen some.
- I don't think so.
Dann wünscht er mir eine gute Weiterfahrt, und nimmt Abschied !

Um wieder die Strasse nach Akureyri zu finden, muss man sehr weit südwärts fahren. Es gibt ja einige Querpisten, ich hatte gedacht, die eine oder andere zu Fuss zu folgen, und wäre lieber durch Hólmavík durchgekommen, doch entlässt mich mein Fahrer nicht vor der Dalsmynni-Abzweigung : da bin ich nur 40 Km von Borgarnes entfernt, wo ich meine erste Nacht im Freien verbracht hatte. Bis Akureyri werde ich halb trampend, halb mit dem Bus ankommen, durch Blönduos, Varmahlíð... Davon gibt es weniger zu erzählen.

Von Akureyri habe ich bis jetzt noch einige nostalgische Erinnerungen (obwohl mir die Städte nicht besonders interessieren) : der botanische Garten, wo es wirkliche Bäume gibt (unglaublig exotisch in Island !) ; die Butterfabrik, die so genüsslich herumroch ; der Dom und sein internationales goldenes Buch ; die Jugendherberge, wohin ich einmal durch das Toilettenfenster kriechen musste, weil das Tür zu früh geschlossen wurde (ich hatte gedacht, 10 Uhr war 10 Uhr) ; der Flugplatz, wovon ich in einer alten Mühle nach Grímsey geflogen bin (drei Nächte habe ich dort im Regen auf der Mitternachtsonne gewartet, um sie endlich zu bewundern, als ich nach Akureyri zurückkam) ... :roll:
Zuletzt geändert von Philippe am Mo 13. Jun 2011, 17:54, insgesamt 1-mal geändert.
lostnature
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Re: Erinnerungen...

Beitrag von lostnature » Mo 13. Jun 2011, 17:50

Vielen Dank dass du uns an deinen Reiseerinnerungen teilhaben lässt.
Finde die sind wirklich gut geschrieben!
LG!
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Ulla
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Re: Erinnerungen...

Beitrag von Ulla » Di 14. Jun 2011, 13:50

Salut Philippe,

Ich war zwar nie in solchen Gewaltmärschen unterwegs, wandere aber sehr gerne! Unserer Westfjorde Wanderreise hat mir 2007 besonders gut gefallen. Hier kannst du auch ein bisschen in Erinnerungen schwelgen. Dein Bericht begeistert mich jedenfalls sehr, danke dafür!



Gruß Ulla
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Danke für die Interesse

Beitrag von Philippe » Di 14. Jun 2011, 21:44

Ich bin froh, dass diese alte Geschichten noch Interesse wecken. Für mich war diese Reise etwas Wichtiges, und ich denke immer noch daran.

Danke für das schöne Video. Meinen Seehunden habe ich ja gleich erkennt !

Vielleicht sollte ich doch noch mal kurz nach Island. Warum nicht in 2014, das wäre also der 40. Geburtstag. Meine Frau muss ich noch überzeugen (sie hat mich schon komisch angesehen, wenn ich sie nach Nordnorwegen mitgenommen habe, wollte ihr das Ort zeigen, wo ich in am selben Jahr (1974) auf einem Bauernhof gearbeitet habe, gleich nach Island). Vielleicht werde ich doch mal im Leben den Snaefellsjökull betrachten... So viel habe ich von Island nicht gesehen !

Wenn ich in den nächsten Tagen Zeit habe, dann versuche ich noch einige kurze Blätter hinzufügen.

Alles gut, und gute Reise allen !
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Ute
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Re: Erinnerungen...

Beitrag von Ute » Mi 15. Jun 2011, 08:20

Hallo Philippe,
da hast du ja ein super Abenteuer erlebt. Schon mal daran gedacht, das in einem Buch zu verewigen?
So ähnlich wie Lisa Steppe vielleicht?
Würde dir sofort eines abkaufen.
Liebe Grüße
Ute
Elke II
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Re: Erinnerungen...

Beitrag von Elke II » Mi 15. Jun 2011, 16:38

Vielen Dank für die wunderschönen Erzählungen. Ich warte schon jeden Tag sehr gespannt darauf, wie es weitergeht. Hoffentlich hast du noch viele Abenteuer zu berichten. Ich war 1999 zum 1. Mal in Island und es ist unglaublich, wie viel sich seitdem verändert hat. Wie muß es dann erst nach so vielen Jahrzehnten sein ? Du würdest sicherlich staunen, die bequem und schnell deine mühsamen Wege geworden sind. (Leider auch unspektakulärer) Nochmals herzlichen Dank für diese tolle Idee.

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